Utiseta
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„Eine Utiseta ist für mich der Gang ins Unbekannte. Das Unbekannte ist meine Angst, ist das Selbst, ist die Kraft der Natur und deren Wesen. Ich habe hier die Möglichkeit mich meinen Ängsten zu stellen und meine energetischen Grenzen zu erweitern, zu wachsen.“
~ Marcel
Draußen Sitzen
Eine Utiseta ist eine traditionelle nordische Praktik, die man schlicht mit „Draußen Sitzen“ oder auch „Ausharren“ übersetzen könnte. Es ist eine Art Meditation, Versenkungsübung oder Kontemplation im Freien und des Nachts, bewusst weit weg von menschlichen Behausungen.
Verwandte Praktiken sind vielleicht die Visionssuche der nordamerikanischen Natives, der High Seat der engländischen Hexen oder der Sitzplatz in der Waldpädagogik – jeweils mit eigenen Ausprägung und teils verschiedenen Intentionen.
die nordische Tradition
Belegte traditionell nordische Intentionen der Nachtwache sind beispielsweise das Erlangen von geheimen Wissen oder magischer Kräfte, Divination oder Entscheidungsfindung.
Da dies erreicht werden sollte, indem man mit den Spirits (Ahnen, Naturwesenheiten oder Gottheiten) kommuniziert, wurden besondere Orte als Sitzplatz gewählt, wie Grabhügel, heilige Haine, Wasserfälle und Wegkreuzungen (was mich an die Geschichten des Blues erinnert, wonach berühmte Künstler an Wegkreuzungen einen Vertrag mit dem Teufel machten). Als Wegkreuzung wird in manchen Kontexten auch das Eintrittstor zur Anderswelt verstanden, die Begegnung von Schüler*in und Lehrendem oder Übertritte in neue Lebensphasen (Initiation).
Im folgenden nun einige ausgewählte historische Quellen, die darlegen, dass es sich allgemein gesprochen um eine magische Praxis – Seiðr – handelt, die den Kontakt zur Anderswelt herzustellen vermag.
In der Prosa Edda gibt es die Geschichte von einem, der auszog, die Nacht auf den Grabhügeln zu verbringen und Rat von seiner verstorbenen Mutter zu erbitten.
Im Gulaþing Gesetz (Norwegen, 9.Jhd) ist die Rede von „útiseta at vekja troll upp“, was „Draußensitzen um Trolle aufzuwecken“ heißt. Mit Trollen könnten auch die Toten gemeint sein, was im Spiritismus dann als Nekromantie bezeichnet wird (Erkenntnis durch verstorbene Seelen – Cognitio mortalium spirituum).
Auch in der „Weissagung der Seherin“ (einem bekannten Gedicht des nordischen Mittelalters) ist eine Erzählung enthalten, wo die Völva – die Seherin – erst eine Utiseta halten muss, bevor sie Odin eine Prophezeihung mitteilen kann.
In der Isländischen Geschichte, die 12.Jhd. niedergeschrieben wurde, wird erzählt, dass der Anführer der Siedler’innen eine Nachtwache unter einem Tierfell abhielt, um Einsicht darüber zuerlangen, ob Island seinen Traditionen folgen oder sich der Christianisierung öffnen solle.
Übrigens wurde mit der Christianisierung das Sitzen des Nachts im Wald verboten (Gulaþing, 13.Jhd), was die Skandinavier nicht davon abhielt, ihrer Tradition zu folgen, bis spät ins 19.Jhd hinein. Das Schlupfloch der findigen Skandinavier war, nicht zu sitzen, sondern zu wandeln durch die Nacht. Dieser sogenannte Arsgang wird immer noch mancherorts vollzogen und zwar nach Überlieferung zum Jahreswechsel, was im nordischen Verständnis zu Samhain/Allerseelen war und heutzutage rund um die Rauhnächte praktiziert wird. Beiden Zeitfenstern wird jedoch nachgesagt, dass die Verbindung zu Welt der Verstorben und Spirits einfacher und leichter ist.
„Die Nacht kann unser Verbünderter sein, in dem sich unsere Dämonen aussprechen können. Sich dem auszusetzen bedarf Mut und wenn wir darüber hinaus lauschen, vermag uns das große Mysterium vielleicht etwas zeigen.“
~ Raphael
Vorbereitung und Durchführung
Aus den Überlieferungen des Arsgang können wir ein paar Dinge ableiten, wie eine Utiseta ablief. So seien unter anderem folgende Vorkehrungen zu beachten:
ein Tag lang fasten
niemanden sagen, wohin man geht
nicht in das Hausfeuer schauen, bevor man sich auf den Weg macht
in Stille sein, also auch niemanden auf dem Weg ansprechen
nie sind mehr als 2 Menschen gemeinsam auf dem Weg
nicht zurückschauen
nicht aus Angst lachen oder lächeln (und die Zwerge werden dich provozieren!)
zuerst einen Friedhof besuchen
in das Schlüsselloch der Kirche pusten, um die Taufe für diese Nacht aufzuheben
Manche Anweisungen scheinen mir universelle Prinzipien, wie sie auch in anderen Kulturen zu finden sind, wie das Fasten oder in Stille sein. Manche Punkte rufen in meinen Augen nach einer Überprüfung, wie das Betreten eines Friedhofes: Das mag damals, wo man am selben Ort lebte wie die Ahnen, sinnvoll gewesen sein – aber als jemand der oft umgezogen ist, habe ich keine Verbindung zu den Menschen, die hier begraben liegen.
So wie es kein gesichertes How-To-Utiseta gibt und wir in anderen Zeiten leben, dürfen wir unser „Draußen-Sitzen“ frei gestalten.
Egal, wie du eine Utiseta gestalten möchtest – eine sorgfältige Planung ist empfehlenswert, da das Ganze ein herausforderndes Unterfangen sein kann. Hier einige Gedanken und Anregungen dazu.
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Vorweg: Du bist immer frei zu tun, was stimmig für dich ist. Trotz aller Vorbereitungen kann der Fall eintreten, dass man die Utiseta nicht bewältigt. Nimm deine Grenzen wahr und verlasse gegebenenfalls den Sitzplatz und begebe dich an einen sicheren, leicht erreichbaren Ort.
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Der Ort sollte gut gewählt sein, denn weitläufige Wälder oder gar besonders schöne aber menschenleere Orte sind gerade in Deutschland rar. Auch ist das Übernachten im Wald in Deutschland eine Grauzone – unter bestimmten Bedingungen ist eine Utiseta jedoch kein Fall für ein Ordnungsgeld, da in der Regel nicht in einem Zelt geschlafen wird. Genaueres zu Campen in Deutschland kannst du hier nachlesen. Oder wenn du dich ein bisschen rein-nerden willst, dann findes du bei „Mann im Wald“ viele Videos zum Thema.
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Man beginne den Abend frühzeitig, so dass man noch vor Sonnenuntergang an seinem Platz ankommt. Mit Sonnenaufgang kehrt man von der Utiseta zurück. Für Frischlinge ist es sicherlich einfacher, die Jahresmitte mit einer kurzen, lauen Sommernacht zu wählen. Traditionell ist jedoch die Zeit zu Samhein oder in den Rauhnächten. Man sollte selbst für nur eine Utiseta-Nacht mehrere Tage einplanen, um entspannt rein und wieder raus zu kommen.
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Um den Beginn und das Ende der Utiseta zu rahmen, bietet es sich an, den Ablauf in eine Ritual einzubetten. Dies kann zu jedem Zeitunkt des Ablaufs stattfinden, spätestens jedoch (oder zusätzlich!) an dem Ort, an dem man die Wacht verbringt. Zum Schluss finde ich eine kleine Opfergabe angemessen.
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Nicht nur eine Opfergabe in Form von Nüssen oder Honig etc wird vom kleinen Volk gewertschätzt, auch Gesang oder ein gesprochenes Feed-back vor Ort kann ein angemessener Abschied vom Sitzplatz den Geistern des Ortes sein. Darüber hinaus kann ein Sharing in der Gruppe oder in Form von Tagebuch angeschlossen werden. Weitere Überlegungen können die Integration vertiefen, zum Beispiel welchen Einfluss die gewonnenen Einsichten auf den Alltag haben werden.
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Bedenke, dass du eine intensive Erfahrung gemacht hast und dein System gerade ungewohnt offen ist (für dich und andere). Wenn du das Ritual verlässt – egal ob in einer Gruppe oder allein – sei besonders achtsam mit dir und lasse deinem System Zeit, sich wieder an deinen Alltag anzupassen. Auch das Fastenbrechen solltest du bewusst begehen und deinem Magen nur leichte Kost anbieten.
Tönen & Lauschen
Zwei Praktiken, die während einer Utiseta zum Einsatz kommen können, möchte ich hier hervorheben, da sie meinen eigenen Weg reflektieren, der zur Zeit tiefer in die Magie und den Animismus führt.
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In „The Norse Shaman“ von Evelyn C. Rysdyk wird Singen und Tönen erwähnt: Um unverarbeitete Erfahrungen zu integrieren, wurden sie auf einer Utiseta laut angesprochen oder besungen. Oder man brachte den Geistern Galdr dar (Beschwörungen oder poetische Lieder). Diese Perioden des Singens und Rezitierens wechselten sich ab mit mit langen Perioden der Stille, um die Antworten der Geister zu empfangen und die Verbindungen zu spüren, die zwischen der unsichtbaren und natürlichen Welt geknüpft werden.
Natürlich bieten sich in Norse Tradition auch Runen an, die getönt werden, um sie tiefer zu erfahren. -
Um die Antworten zu hören, die die Anders-als-Menschen-Wesen uns mitteilen wollen, brauchen wir die Stille in uns. Um in Stille zu kommen, gibt es Übungen wie Somatic Orienting oder Autogenes Training. Hierbei geht es um das neugierige und kontemplative Erkunden der Umgebung mit den Sinnen. Die Aufmerksamkeit richtet sich auf die Wahrnehmung der Geräusche und visuellen Eindrücke, Windbewegungen, Vogelgesang, oder Blätterrascheln.
Dann darf die Aufmerksamkeit ins Körperinnere gehen. Die Atmung, das Gefühl des Windes auf der Haut, wo im Körper die Schwere hinsinkt oder die gleichzeitige Wahrnehmung verschiedener Körperteile. Es ist hilfreich, wenn diese Art der Versenkung schon geübt ist.
Diese beiden Beobachtungsfelder können abwechselnd in die Aufmerksamkeit genommen werden, bis sie sich irgendwann überlappen und dann in der Vertiefung zu einer Trance beitragen.
Disclaimer
Als ich mich näher mit dem Thema Utiesta auseinandergesetzt habe, kam ab und an der Hinweis auf, dass es eine sehr herausfordernde Praxis sein kann sein kann, jedoch wurde dies nirgends näher ausgeführt. Deshalb möchte ich dies hier einmal nachholen, denn auch dieses Wissen dient einer sicher geführten Utiseta.
Es ist dabei zu beachten, dass nicht jede’r die gleiche Erfahrung macht und die Herausforderungen individuell unterschiedlich sind.
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Die Tiefe der Kontemplation während einer Utiseta kann spirituelle Krisen auslösen. Dies kann für manche Menschen überwältigend sein und zu psychischer Belastung oder Desorientierung führen.
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Die Stille und das All-ein-sein der Utiseta können dazu führen, dass verborgene oder unterdrückte emotionale Themen oder traumatische Erinnerungen auftauchen, die schwierig zu bewältigen sein können. Zum Beispiel können Gefühlen von Isolation oder Verlassenheit verstärkt werden, insbesondere wenn man akut mit persönlichen oder zwischenmenschlichen Herausforderungen konfrontiert ist.
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Menschen, die bereits an psychischen Erkrankungen leiden oder sich in einer instabilen mentalen Verfassung befinden, sollten möglicherweise vorsichtig sein oder professionelle Beratung in Betracht ziehen, bevor sie an einer Utiseta teilnehmen. Personen, die mit schweren Traumata, Angststörungen oder anderen psychischen Gesundheitsproblemen zu kämpfen haben, sollten die potenziellen Risiken und Herausforderungen einer solchen Praxis sorgfältig abwägen und gegebenenfalls professionelle Unterstützung in Anspruch nehmen.
Falls Ängste oder Bedenken bestehen, kann ich das gut verstehen. Ich habe zum Beispiel das wilde Zelten auch erst mit einem Freund zusammen gelernt, bevor ich mich allein nachts in den Wald gewagt habe. So etwas kann man aber auch mit Hilfe von geführten Meditationen vorbereiten, wie zum Beispiel mein Deep Dive Yoga Nidra.
"Utiseta ist für mich eine Herausforderung – das Wachen in der Dunkelheit, das Sein mit mir selbst und auch das Lauschen in die beseelte Natur. Es ist ein Rückverbinden und ein Hineintauchen in die Gemeinschaft mit den Anders-als-Menschen-Wesen."
~ Mela
Die Bedeutung von Utiseta heute
Wie Eingangs beschrieben ist in meinen Augen die zeitgemäße Interpretation alter Bräuche ein wichtiger Schritt für eine angemessene Spirtualität. Die Verbindung mit der Natur ist für mensch ein Prozess, der zu innerem Frieden und zu einem besseren Verständnis unserer selbst führt. Und darüber hinaus einer, der uns wieder einwebt in die Gemeinschaft der Natur, damit wir uns wieder in ihr Zuhause fühlen dürfen.
So knüpfen wir nicht nur an kulturelle Traditionen der Naturverbundenheit an, sondern können die Transformation des eigenen Lebensstils initiieren. Dies ist nicht nur für uns, sondern auch für die Natur heilsam: Wir stärken die eigene Resilienz und die unserer Umwelt – sei es durch eine Utiseta, eine Puja oder ein Jahreskreisfest – und werden uns aber auch unserer Verletzlichkeit und der der Erde bewusst und der Verwobenheit dessen. Das macht für mich die besondere Kraft und Nachhaltigkeit dieser Praktiken aus.
Ausblick
Noch liegt die erste Utiseta-Erfahrung vor mir und ich freue mich, im Blog auch bald einen Erfahrungsbericht anzuhängen.
Es mag nun verwegen erscheinen, eine Utiseta anzubieten, wenn man den Raum darin noch nicht selbst erfahren hat, jedoch habe ich die wunderbare Begleitung von zwei starken Männern: Raphael hat in Tradition der Blackfoot eine Visionssuche bestanden und Marcel hat schon einige Erfahrung damit, sowohl allein als auch in Gruppen – ihm gilt an dieser Stelle mein besonderer Dank für den Impuls und Lust, dieses Projekt in die Welt zu bringen. Zudem haben wir schon viele Jahreskreisfeste miteinander begangen und Raphael und ich sind erfahren darin, Erfahrungsräume und Ritale zu halten.
Und auch wenn du selbst weder die Erfahrung noch die Begleitung hast, die ich hier schildere, spreche ich dir Mut zu, in die eigene Erforschung und Praxis zu gehen, eine Land-verbundene Spiritualität in dein Leben zu bringen. In kleinen Schritten. Vielleicht fängt es mit regelmäßigem Besuch eines Platzes in der Natur an, wie in der Wildnispädagogik konzipiert. Oder mit einer achtsamen Übernachtung im Wald mit Freund'innen. Und du bist herzlich eingeladen, mit uns Kontakt aufzunehmen und gemeinsam zu gucken, wie du eine Utiseta für dich gestalten kannst.